Prolog

aus dem Buch

Der Rausholer

von Max Claro, HELLER VERLAG, ISBN 978-3-929403-48-0


Nichts könnte mich heute, im Zeitalter von Julian Paul Assange und Edward Joseph Snowden, zwei Männern, deren Aktivitäten vielen namenlosen Agenten das Leben gekostet und noch mehr hinter Gitter gebracht haben, dazu bewegen, wieder in die Welt der Geheimdienste einzusteigen. Dennoch: Ich bereue nichts und würde alles genauso wieder tun.

Alles, was ich getan habe, war mit meinem Gewissen zu vereinbaren. Bis heute quält mich zuweilen die Ungewissheit, ob nicht möglicherweise in der Folge oder Folgesfolge meines Handelns Menschen zu Schaden kamen. Aber, soweit man überhaupt Menschenleben gegen Menschenleben aufrechnen kann, eines ist sicher: Ich habe um ein Vielfaches mehr Menschen, deren Leben in höchster Gefahr war, in Sicherheit gebracht als Leben gefährdet oder vernichtet.

Dieser Roman spielt zwischen 1971 und 1979 und beruht auf wahren Begebenheiten.

Im Vietnamkrieg, einem Stellvertreterkrieg zwischen den Supermächten USA, Russland und China, verloren Millionen Menschen das Leben. Er endete 1975 mit dem Sieg der kommunistischen Vietcong.

Mohammed Zahir Schah führte bis 1973 fast 40 Jahre lang friedfertig das Königreich Afghanistan. Schah Mohammad Reza Pahlavi regierte autokratisch Persien, bis er im Januar 1979 vom Volk verjagt wurde. Ajatollah Ruhollah Chomeini installierte im Februar 1979 ein Mullah-Regime und rief am 1. April 1979 die Islamische Republik Iran aus. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Siemens-Tochter Kraftwerk Union AG in Buschehr am Persischen Golf ein Atomkraftwerk errichtet, dessen Block 1 zu 85 Prozent und Block 2 zu 50 Prozent fertiggestellt waren.

Damals war vieles anders als heute, manches einfacher, manches schwieriger. Es war üblich und legal, dass Konzerne ausländische Politiker bestachen und die Bestechungsgelder von der Steuer absetzten. Man durfte noch Flüssigkeiten, Scheren und Messer mit ins Flugzeug nehmen und auf Flügen rauchen. Das digitale Zeitalter lag in weiter Ferne. Es gab weder Internet noch E-Mails noch Handys, Smartphones, Apps, GPS oder DNA-Analysen. Die Videoüberwachung von Bahnhöfen, Flughäfen, Grenzübergängen, öffentlichen Plätzen und Wohnräumen war technisch ebenso wenig möglich wie ein weltweit vernetzter Datenaustausch. In Kameras musste man Filme einlegen und die beliebteste Spionagekamera war die Minox C, ein Meisterwerk deutscher Ingenieurskunst. Es war ein Leichtes, Pässe zu fälschen, Passfotos auszutauschen und mit einem selbst geschnitzten Gummistempel das Amtssiegel echt aussehen zu lassen. In den meisten Ländern der Erde, einschließlich Deutschlands, wurde dem Angerufenen nie die Telefonnummer des Anrufers angezeigt und aus jeder Telefonzelle konnte man anonym telefonieren. Telefonate waren mittels ausgetauschter Sprechkapsel, Induktionsspule oder angezapfter Leitung leicht abzuhören. Kraftfahrzeuge aller Hersteller und Größen ließen sich mit einfachen Mitteln reparieren, manipulieren und knacken. Türschlösser waren mit einem Dietrich, Sicherheitsschlösser mit zwei Heftklammern oder Haarnadeln zu öffnen. Die gefürchtetste Alarmanlage war ein Hund.

Zwischen den Westmächten unter der Führung der USA und dem Ostblock, angeführt von der Sowjetunion, herrschte der Kalte Krieg. Der Eiserne Vorhang teilte Deutschland und spaltete die Sowjetunion, Polen, die damalige Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien vom Westen ab. Bürger der Westmächte durften in den Ostblock, aber Bürger des Ostblocks nicht in den Westen reisen. Die Grenzen waren scharf gesichert und schienen schier unüberwindlich. Dennoch gelang Tausenden aus politischen, privaten und wirtschaftlichen Gründen die Flucht in den Westen. Fluchthilfe war ein lukratives Geschäft. Geheimdienste beteiligten sich daran vor allem dann, wenn sie der Gegenseite strategisches oder wissenschaftliches Know-how entziehen konnten, zum Beispiel durch den Seitenwechsel eines hochdekortierten Generals oder eines genialen Atomwissenschaftlers in das eigene Lager, oder wenn das Leben eigener, im Feindesland operierender Agenten in Gefahr war. Heute sind die Grenzen offen. Ein Virus konnte sich daher schnell weltweit ausbreiten und hat im ersten Jahr der Pandemie um ein Vielfaches mehr Menschenleben gefordert als der Eiserne Vorhang in den Jahrzehnten seines Bestehens.


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